ERINNERUNGEN, notiert am 2. März 2007 Die Zichy utca 9 während und nach dem 2. WeltkriegSpätestens nach dem zweiten Weltkrieg wurde die Zichy utca eindeutig zum Zentrum des jüdischen Lebens von Óbuda (Altofen), doch auch schon vorher war sie ein wichtiger Ort für die jüdische Gemeinde gewesen. Auch der Rabbi, József Neumann, wohnte dort. Doch nicht nur die Angelegenheiten des religiösen Miteinanders wurden hier geregelt, wie zum Beispiel die Wiedernutzbarmachung der Synagoge, es entstand auch eine zionistische Bewegung.
Die Zionisten hatten es sich zur Aufgabe gemacht, sich vor allem um die am Leben gebliebenen jüdischen Jugendlichen zu kümmern, sprich sie zu überzeugen, nach Israel auszuwandern. Oft gingen sie auch.
Ich möchte noch erwähnen, dass ich mit meiner Oma im Ghetto, in der Nagydiófa utca 12 oder 15 gewohnt habe. Zuvor haben wir mit meinen Eltern und Großeltern neben dem Amphitheater in der Pacsirtamező utca 11 gelebt. Das Haus war mit einem Judenstern gekennzeichnet.
Als wir von dort fortziehen mussten, sammelten uns die Polizisten und Pfeilkreuzler ein. Wenn ich mich richtig erinnere, habe ich gar keine deutschen Soldaten gesehen, hier haben alles die ungarischen Obrigkeiten geregelt.
Am Ende des Sommers 1944 mussten wir, das heißt meine Mutter, meine Tante Olga Gutmann, meine Großmutter Ármin Engel und ich zur Sammelstelle in der Zichy utca 9 gehen.
Das alte Schulgebäude diente als Sammelstelle und sie trieben uns alle im Festsaal zusammen. (Mein Vater und Großvater waren schon damals im Arbeitsdienst.) Etwa 100 Leute waren dort zusammengepfercht, schliefen an die Wand gepresst. Dort lebten wir eine Zeit lang. Dann kamen die Polizisten und Pfeilkreuzler wieder und transportierten uns zur Ziegelfabrik und von dort aus weiter Richtung Westen. Ich war damals sieben Jahre alt. Trug Winterjacke und Ohrenmütze, es war Herbst. Meine Mutter hatte damals mit einer christlichen Nachbarin ausgemacht, dass sie mich bei ihr verstecken würde, wenn die Juden fortgebracht würden.
Ich musste in den Keller der Zichy utca 9 gehen und dort auf Frau Ganz warten. Ihr Mann, Zoli Ganz, war Jude. Im Keller war es dunkel und ich hatte große Angst. Wie ich bereits sagte, wurde vor dem Haus der Transport vorbereitet. Aber weil ich solche Angst hatte, bin ich hinaufgegangen, um in der Gruppe meine Mama zu suchen. Meine Mutter ermahnte mich, dass ich im Keller warten solle, weil Frau Ganz bald kommen würde. Aber ich wollte nicht. Auf einmal erschien Frau Ganz und meine Mutter stieß mich aus der Menschenreihe auf die Straße. Frau Ganz nahm meine Hand. Als meine Mutter später, Anfang 46/Ende 47 aus dem Konzentrationslager Mauthausen nach Hause kam, erzählte sie, dass damals ein alter grauhaariger Polizist, der dort über den Transport wachte, diese Szene mitbekam, dann aber wegsah. So kam ich zu Frau Ganz in die Kiskorona utca. Nach einer Woche sagte die Hausmeisterin zu Frau Ganz, sie müsse mich ins Ghetto bringen, wenn nicht, würde man sie bei der Gaubehörde anzeigen. Dies ging so lange hin und her, bis mich Frau Ganz tatsächlich ins Ghetto brachte.
Als ich nach dem Krieg zurück in die Pacsirtamező utca 11 zog, besuchte ich zusammen mit anderen Jugendlichen abermals die Zichy utca 9. Dort fanden tagsüber verschiedene Programme statt; wir bekamen auch zu essen. Die Zionisten beschäftigten sich sehr intensiv mit uns. Mutter, Vater, alle Familienmitglieder traten in die kommunistische Partei ein. Die Kommunisten verurteilten aber ihrerseits die Zionisten. So ging ich dann auf eine normale Schule.
In der Zichy utca hingegen veranstaltete der Vorsteher der jüdischen Gemeinde von Óbuda (Altofen), Herr Szűcs, kulturelle Aufführungen. Miklós Gottlieb zählte zu meinen Freunden. Am Tag des Pessach-Festes traten Miklós und ich auf. Ich war Mordechai und Miki Gottlieb spielte den Haman. Wir spielten einen Dialog vor, von dem ich vermute, dass er von Herrn Szűcs stammte. Der Kern des Dialogs war, dass ich, Mordechai, Hamans Fragen beantworten musste. Wenn nicht, würde er mich zusammen mit den anderen Juden hinrichten.
Unter anderem fragte Haman mich: „Sag mir, wie schwer ist der Mond?” Das Messer hing in der Luft, wer weiss schon, wie schwer der Mond ist. Darauf antwortet Mordechai: „Mein Herr, der Mond wiegt genau einen Zentner. Wenn du es nicht glaubst, wiege ruhig nochmal nach.” Der Applaus war riesig.
Die ChristenDer beste Freund meines Vaters aus der Kindheit war ein Schwabe namens Károly Haisch. Seine Wohnung, die er zusammen mit seiner Frau und seiner Tochter bewohnt hatte, wurde ausgebombt, sie verloren alles. Mein Vater nahm sie bei sich in der Eső utca 6 auf. Haisch’ Frau, Manci, sagte: Jancsi werde ich genauso erziehen wie meine Tochter. Damals wussten wir nichts von meiner Mutter. Ich habe nur schöne Erinnerungen daran, wie sich diese Frau um mich kümmerte, mich zur Schule brachte, bis meine Mutter wieder nach Hause kam. Dann zogen wir zurück in die Pacsirtamező utca 11, in die Wohnung meiner Großmutter.
Identitätssuche, Frage der AssimilationWir Langs und Engels haben eine Zeit miterlebt, die in Ungarn unter den ungarischen Juden – die Frage nach dem jüdischen Selbstbewusstsein aufgeworfen hat. Ich habe meine Eltern gefragt – mein Vater wurde 1902, meine Mutter 1911 geboren –, wie sie als erwachsene, denkende Menschen nach 1920 hier bleiben und als Bürger zweiter Klasse leben konnten. Als Hitler noch nicht einmal geboren war, gab es bei uns schon 1920-22 Rassismus. Hitler kam erst 1933 an die Macht. Darauf konnten meine Eltern mir keine Antwort geben. Ein uns bekannter Kinderarzt konnte hier sein Medizinstudium wegen des Numerus Clausus für Juden nicht fortsetzen. Er musste nach Prag gehen. Ganz zu schweigen von den späteren Jahren, als man jüdische Männer nicht in die Armee eintreten ließ, sondern zum Arbeitsdienst verpflichtete.
Mein Schwiegervater hieß Ernő Ács, vor der Magyarisierung lautete der Familienname Abeles, und hatte viele Auszeichnungen aus dem I. Weltkrieg. Diese Auszeichnungen wurden ihm alle aberkannt.
Im Zusammenhang mit der Identitätssuche bzw. Assimilation erwähne ich noch den Oberarzt und Chirurgen Dr. Endre Örlős. In meiner Jugendzeit war er so etwas wie ein Mentor für mich. Er brachte mir bei, dass alle Assimilierungsversuche vergeblich sind, da die Mehrheit der Gesellschaft einen immer an seine jüdische Herkunft erinnern wird.
Deshalb müssten wir bewusst auf die jüdischen Feste achten, zum Beispiel sollten wir am Sühnetag fasten. Damit wir nicht einmal aus Versehen unser Jüdischsein vergessen.
Dr. Örlős wurde nach 1956 interniert, weil er beschuldigt wurde, während des Aufstandes nur die verletzten Aufständischen im Margit-Krankenhaus behandelt zu haben. Das stimmte selbstverständlich nicht.
László Bihari (Braun), der damalige Parteisekretär im III. Bezirk (Óbuda), legte ein gutes Wort für Örlős bei Kádár ein, woraufhin er aus Kistarcsa entlassen wurde.