VERA KRAMER, Verheiratete Lőb Gyuláné (12. Mai 1932 - 24. Mai 2011.)
„Ich kann nicht beten. Ich leide darunter. Vom auserwählten Volk der Juden sind sechs Millionen gestorben. Meine Mutter hat noch ernsthaft gebetet und gefastet.”
Beruf: Buchhalterin
Vera Kramer besuchte von 1938 bis 1942 die Grundschule in der Zichy utca.
GESCHWISTER: György Tamás Kramer (geb. 1929.). Er wurde zusammen mit seiner Mutter am 15. November 1944 aus der Ó utca auf den von Eichmann befohlenen Todesmarsch geschickt. Péter (geb. 1937) überlebte den Krieg und wohnt heute in New York. Die Familie wohnte in der Vörösvári utca 11. VATER: Mór Kramer (geb. 4. Mai 1896, Nagyrippény, Slowakei). Von seinen Geschwistern war er am wohlhabendsten. 1942 wurde er zum Arbeitsdienst einberufen. Er starb in Usicá, Russland. Geschwister: Nándor und Dezső Kramer, beide überlebten die Shoa. MUTTER: Kornélia Engel (geb. 8. Aug. 1904, Nagybánya). Sie starb in Bergen-Belsen. GROSSVATER MÜTTERLICHERSEITS: Ferenc Engel
Die Familie wohnte in der Pacsirtamező utca 11.
Schule „Ich habe nur schöne Erinnerungen”
Es hat Spaß gemacht, dorthin zu gehen. Samstags Gottesdienst in der Synagoge … Ich habe nur schöne Erinnerungen an diese Zeit. Ich fühlte mich wohl.
In der Zichy-Schule gehörte ich nicht gerade zu den bravsten Kindern. Ich habe ziemlich viel Unsinn gemacht. Herr Direktor Weisz kam sogar zu uns nach Hause und schlug mit dem Rohrstöckchen auf meine Handfläche. Ich stellte Leuten ein Bein, prügelte mich mit den Jungen, und zwar ordentlich. Zu Hause ging es weiter, weil mein Vater, der beste Mann der Welt, sehr streng mit uns war.
Das Gesicht von Direktor Weisz habe ich noch genau vor mir. Er hatte einen vollen Bart, war groß gewachsen.
Klassenkameraden Kati Kaiser, „Tinkó”, habe ich sehr beneidet. Ihre Mutter war alleinerziehend und verdiente ihr Geld mit Handarbeiten. Kati war immer gut angezogen. Sie hatte einen grünen Rock und einen grünen Bolero. Sie war ein hübsches Mädchen. Und ich musste in Schnürschuhen und einem einfachen Kittel zur Schule gehen.
Religion Wir waren nicht sehr religiös. Wir hielten die großen Feste ein, ich ging selbstverständlich auf eine jüdische Schule, aber wir lebten nicht koscher. Einmal hatte ich ein mit Butter und Schinken belegtes Brötchen als Pausenbrot mitgenommen. Ich habe immer gern und gut gegessen. Einer der Lehrer bemerkte es, vielleicht war es sogar Direktor Weisz. Jedenfalls nahm er den fettigen Schinken vom Butterbrot, damit das Fleisch nicht zusammen mit dem Milchprodukt gegessen würde. Er warf den Schinken nicht weg, sondern gab ihn mir, separat eingewickelt, zurück. Ich bewahrte den Schinken auf und als ich später auf der Straße war, tat ich ihn wieder auf das Brötchen und aß es auf. Ich hatte kein schlechtes Gewissen. Aber einmal hatte ich doch schlimme Schuldgefühle. Denn meine Eltern verlangten, dass wir uns bis zu einem gewissen Grad an die Lebensmittelvorschriften hielten. Außerdem kam meine Mutter aus einer koscheren Familie und obwohl sie die strengen Regeln außer Acht ließ, aßen wir zum Beispiel an Pesach kein Brot. Einmal bot mir die Hausmeisterin frisch gebackenes Brot an. Sie bemühte sich immer so sehr, einen guten Eindruck zu machen, weil sie sich von meinem Vater ständig Geld lieh. Ich vergaß, dass ich kein Brot essen durfte. Mein Gott! Jetzt habe ich eine solche Sünde begangen, von diesem Brot zu essen; das ist bestimmt das Ende. Das Ende kam dann aber erst viel später und anders als gedacht. Ich war damals 7 oder 8 Jahre alt…
Beim Fasten am Sühnetag mussten wir in der Synagoge an mit Gewürznelken bespickten Quitten riechen, sie zu essen, war verboten. Wir Kinder mussten aber keine 24 Stunden aushalten. Natürlich trieben wir auch dann nur Unfug. Bei den großen Festen gingen auch mein Vater und meine Mutter in die Synagoge. Und in der Schule hatten wir jeden Tag Religionsunterricht.
II. Weltkrieg, Schreckensherrschaft der Pfeilkreuzler, Deportation Im Grunde begann es 1942. Sie beriefen meinen Vater, der 1940 noch Reserveoffizier war, ein. Da er sich im ersten Weltkrieg hohe Auszeichnungen verdient hatte, haben sie ihn in Uniform als Leutnant einberufen. Aber einem seiner Vorgesetzten, dem Oberstleutnant Tomanóczi, gefiel mein Vater von Anfang an nicht. Tomanóczi war so berüchtigt, dass man ihn nach dem II. Weltkrieg sogar als Kriegsverbrecher hingerichtet hat. 1942 steckte Tomanóczi meinen Vater in eine besondere Sträflingskompanie. Sie mussten in die Sowjetunion und 1943 starb mein Vater bei einem Rückzugsmanöver in Usica, einem ukrainischen Dorf. Meine Mutter blieb dann, im Jahre 1943, mit ihren drei Kindern allein. Solange mein Vater fort war, hat meine arme Mama jeden Tag gefastet, damit er zurückkommt. Viel gebracht hat die Fasterei nicht, aber ich glaube, bei anderen auch nicht. 1944 konnten wir nicht mehr zur Schule gehen – ich ging in die Volksschule am Zsigmond tér, mein kleiner Bruder auf das Árpád Gymnasium –, weil die Verschärfungen begannen. Dank der erwähnten hohen Kriegsauszeichnungen meines Vaters mussten wir zumindest anfangs keinen Judenstern tragen. Aber diese bevorzugte Behandlung hielt nur einen Monat, danach mussten wir das Fahrrad, das Radio, alles was wir hatten, abgeben.
1944, als Szálasi an die Macht kam, tauchten eine Menge Pfeilkreuzler bei uns in der Pacsirtamező utca 11 auf. Das Haus hatte vier Zimmer und eine Magdkammer, und war mit einem Stern gekennzeichnet. Außer uns wohnten dort noch andere jüdische Familien, ein Zimmer wurde in zwei geteilt. Die Pfeilkreuzler wollten Waffen. In der Diele hatte mein Vater Karikaturen von seinen Freunden aufgehängt. Die Pfeilkreuzler zerstörten sie. Da brachte meine Mutter ihnen das Offiziersschwert meines Vaters. Dies beschwichtigte sie etwas. Sie versprachen wiederzukommen, doch sie kamen nicht noch einmal zu uns.
Dann wurde die Ausgangssperre eingeführt. Hierhin durften wir nicht gehen, dahin durften wir nicht gehen, auf der Straße wurden wir angespuckt, wenn jemand den Stern sah. Ich hatte eine dunkelblaue Jacke, darauf sah der gelbe Stern eigentlich ganz schick aus.
In Óbuda wohnten viele Schwaben, sogenannte Braunhaxler. Nicht alle waren Antisemiten, das zu sagen, wäre übertrieben. Aber ich erinnere mich gut daran, dass sie, als am 19. März 1944 die Deutschen einmarschierten und den Árpád fejedelem út entlang zogen, von einer jubelnden Menge empfangen wurden. Nach ihnen kamen die ungarischen Soldaten, und die Schwaben drehten ihnen den Rücken zu. Ich rede von in Ungarn lebenden Schwaben.
Ende Oktober 44 wurde Óbuda von Juden gesäubert. Wir zogen in die Ó utca zu meinen Großeltern. Wir durften nur mitnehmen, was wir auf dem Rücken und in den Händen tragen konnten, also nicht mal das Nötigste. Vor unseren Augen schafften sie die Sachen fort. Der Hausmeister meinte, er würde sie aufbewahren. Er war auch ein Pfeilkreuzler.
Am 15. November wurden die Leute aus der Ó utca abgeholt und auf den sog. Todesmarsch geschickt. Auch meine Mutter und mein Bruder Gyuri wurden damals mitgenommen. Wir versuchten, einen Schutzbrief zu bekommen. Haben ihn sogar verschickt, aber der Brief hat wohl niemanden erreicht. Wir haben noch zwei Postkarten von meiner Mutter erhalten, eine aus Pilicsaba und eine aus Dorog. Sie schrieb, dass ihre Decken verloren gegangen seien, dass sie frören und Mutter sich um uns sorge. Danach hörten wir nichts mehr von ihnen.
Später kamen wir ins Ghetto, jeder zehnte wurde erschossen. Kleine Rotzlöffel bekamen Gewehre in die Hand gedrückt, genauso wie 1956, mit dem Unterschied, dass letztere heute als Helden verehrt werden. In keinem System sollten Waffen in Kinderhände gelangen. Genau genommen sollte keiner je eine Waffe in die Hand nehmen, aber Kinder erst recht nicht. 1944 gaben die Kinder mit den Waffen an, manchmal schossen sie auch. Man war vollkommen ausgeliefert, wir verloren damals unsere Menschlichkeit, unsere menschliche Würde.
Als Kind habe ich das noch nicht begriffen, ich verstand es nicht. Damals hatte ich nur Angst. Auf dem Klauzál tér schichteten sie Leichen auf. Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich einen Toten. Ich stolperte sogar über einen. Am Klauzál tér 16 gab es kein Wasser im Keller. Es gab Löcher zwischen den Häusern und man musste über die Toten klettern, um Wasser zu holen. Aber im Gegensatz zu dem, was diejenigen erlebt haben, die deportiert worden sind, war das gar nichts.
Im Januar, als uns die Russen befreiten, brachte uns unsere kalvinistische Ersatzmutter Jusztina Simon in die Szigony utca. Jusztina kam aus Komárom und war die wunderbare Köchin meiner Eltern gewesen.
Danach gingen wir zurück nach Óbuda. Unsere Wohnung war mit allen möglichen Unterlagen eines deutschen Unternehmens vollgemüllt. Uns blieben nur zwei Zimmer. Die anderen beiden bewohnten Mitmieter, die ebenfalls zurückgekommen waren. Die Wohnung des Hausmeisters konnte man schon gar nicht mehr betreten. Die war total zugestellt mit unseren Möbeln. Dann wurde der Hausmeister in die Andrássy út 60 eingesperrt, und wir erhielten einige unserer Möbel zurück.
Der Hausmeister selbst war kein Mitglied der Partei der Pfeilkreuzler, aber sein Vater und sein Bruder trugen schwarze Uniformen. Sein Bruder verschwand nach Argentinien, bevor er aufgehängt worden wäre.
Nach dem Tod meines Vaters riet irgendwer meiner Mutter, die wertvollen Teppiche ins Pfandhaus zu geben. Dort seien sie bombensicher… bombensicher? Natürlich haben wir sie nie wieder gesehen. Diejenigen, denen wir Schmuckstücke zur Aufbewahrung dagelassen hatten, erzählten, dass sie ausgeraubt worden seien: Von den teuren Gemälden nahmen wir die Bilderrahmen ab, verstauten sie in einem Koffer und gaben ihn unserer Nachbarin aus dem dritten Stock. Sie sagte, dass die Russen genau diesen Koffer gestohlen hatten.
Meine Mutter hatte die Angewohnheit, ihren Namen in die Innenseite ihrer Bücher zu schreiben. Später habe ich Bücher mit der Handschrift meiner Mutter geliehen bekommen. Aber was zählt das schon, wo doch unser Leben, das wichtiger war als alles andere, verloren gegangen war. Ich würde so gerne mit meiner Mutter, mit meinem Vater träumen, aber ich kann nicht.
Nach 1945 wollten wir zusammen mit den Zionisten auswandern. Aber Jusztina hätte nicht mit uns kommen können. Sie war unsere Mutter, als wir keine mehr hatten. Früher brachte sie uns Essen in das mit Stern gekennzeichnete Haus, setzte ihr Leben aufs Spiel. Und nachdem wir aus dem Ghetto befreit wurden, suchte sie uns sofort. Allen Schmuck, den sie von meinen Eltern zu Weihnachten bekommen hatte, tauschte sie gegen Essen ein, damit wir überleben konnten. Die Enkel nannten sie Omi. (Siehe das Foto von Vera und Jusztina Simon.)
Familie Mein Vater hatte ein Holzlager am Filatorer Deich, an der Ecke zwischen Szentenderei út und Hévíz utca. Er hatte auch einen Wald und handelte mit dem Holz. Von seinen Geschwistern war er der wohlhabendste und die Familie kam immer bei uns zusammen. Mein Vater unterstützte die anderen Familienmitglieder. Seine Schmucksachen vertraute er teilweise seinem älteren Bruder, dem Doktor, an, aber diese tauchten nicht mehr auf.
Das Leid nach dem Krieg „Ich kann nicht beten. Ich leide darunter. Vom auserwählten Volk der Juden sind sechs Millionen gestorben. Meine Mutter hat noch ernsthaft gebetet, gefastet.”
„Und dann kommt die nasse Jahreszeit…”
Bis zum heutigen Tag friere ich sehr schnell. Wenn der Herbst kommt, schäme ich mich, wenn ich friere. Ich weiß, es ist Blödsinn. Aber wenn ich daran denke, wie sehr meine Mutter und die anderen gefroren haben müssen. Nur in ein armseliges Stück Stoff gekleidet, denn 44 war ein strenger Winter, und ich quengele hier warm angezogen herum! Und dann kommt die nasse Jahreszeit und in meinem Kopf fängt es wieder von vorne an, nach so vielen Jahren.
Schule
„Ich habe nur schöne Erinnerungen”
Es hat Spaß gemacht, dorthin zu gehen. Samstags Gottesdienst in der Synagoge … Ich habe nur schöne Erinnerungen an diese Zeit. Ich fühlte mich wohl.
In der Zichy-Schule gehörte ich nicht gerade zu den bravsten Kindern. Ich habe ziemlich viel Unsinn gemacht. Herr Direktor Weiszkam sogar zu uns nach Hause und schlug mit dem Rohrstöckchen auf meine Handfläche. Ich stellte Leuten ein Bein, prügelte mich mit den Jungen, und zwar ordentlich. Zu Hause ging es weiter, weil mein Vater, der beste Mann der Welt, sehr streng mit uns war.
Das Gesicht von Direktor Weisz habe ich noch genau vor mir. Er hatte einen vollen Bart, war groß gewachsen.
Klassenkameraden
Kati Kaiser, „Tinkó”, habe ich sehr beneidet. Ihre Mutter war alleinerziehend und verdiente ihr Geld mit Handarbeiten. Kati war immer gut angezogen. Sie hatte einen grünen Rock und einen grünen Bolero. Sie war ein hübsches Mädchen.
Und ich musste in Schnürschuhen und einem einfachen Kittel zur Schule gehen.
Religion
Wir waren nicht sehr religiös. Wir hielten die großen Feste ein, ich ging selbstverständlich auf eine jüdische Schule, aber wir lebten nicht koscher. Einmal hatte ich ein mit Butter und Schinken belegtes Brötchen als Pausenbrot mitgenommen. Ich habe immer gern und gut gegessen. Einer der Lehrer bemerkte es, vielleicht war es sogar Direktor Weisz. Jedenfalls nahm er den fettigen Schinken vom Butterbrot, damit das Fleisch nicht zusammen mit dem Milchprodukt gegessen würde. Er warf den Schinken nicht weg, sondern gab ihn mir, separat eingewickelt, zurück. Ich bewahrte den Schinken auf und als ich später auf der Straße war, tat ich ihn wieder auf das Brötchen und aß es auf. Ich hatte kein schlechtes Gewissen. Aber einmal hatte ich doch schlimme Schuldgefühle. Denn meine Eltern verlangten, dass wir uns bis zu einem gewissen Grad an die Lebensmittelvorschriften hielten. Außerdem kam meine Mutter aus einer koscheren Familie und obwohl sie die strengen Regeln außer Acht ließ, aßen wir zum Beispiel an Pesach kein Brot. Einmal bot mir die Hausmeisterin frisch gebackenes Brot an. Sie bemühte sich immer so sehr, einen guten Eindruck zu machen, weil sie sich von meinem Vater ständig Geld lieh. Ich vergaß, dass ich kein Brot essen durfte. Mein Gott! Jetzt habe ich eine solche Sünde begangen, von diesem Brot zu essen; das ist bestimmt das Ende. Das Ende kam dann aber erst viel später und anders als gedacht. Ich war damals 7 oder 8 Jahre alt…
Beim Fasten am Sühnetag mussten wir in der Synagoge an mit Gewürznelken bespickten Quitten riechen, sie zu essen, war verboten. Wir Kinder mussten aber keine 24 Stunden aushalten. Natürlich trieben wir auch dann nur Unfug.
Bei den großen Festen gingen auch mein Vater und meine Mutter in die Synagoge. Und in der Schule hatten wir jeden Tag Religionsunterricht. (Dokumente 180, 181)
II. Weltkrieg, Schreckensherrschaft der Pfeilkreuzler, Deportation
Im Grunde begann es 1942. Sie beriefen meinen Vater, der 1940 noch Reserveoffizier war, ein. Da er sich im ersten Weltkrieg hohe Auszeichnungen verdient hatte, haben sie ihn in Uniform als Leutnant einberufen. Aber einem seiner Vorgesetzten, dem Oberstleutnant Tomanóczi, gefiel mein Vater von Anfang an nicht. Tomanóczi war so berüchtigt, dass man ihn nach dem II. Weltkrieg sogar als Kriegsverbrecher hingerichtet hat. 1942 steckte Tomanóczi meinen Vater in eine besondere Sträflingskompanie. Sie mussten in die Sowjetunion und 1943 starb mein Vater bei einem Rückzugsmanöver in Usica, einem ukrainischen Dorf. Meine Mutter blieb dann, im Jahre 1943, mit ihren drei Kindern allein. Solange mein Vater fort war, hat meine arme Mama jeden Tag gefastet, damit er zurückkommt. Viel gebracht hat die Fasterei nicht, aber ich glaube, bei anderen auch nicht.
1944 konnten wir nicht mehr zur Schule gehen – ich ging in die Volksschule am Zsigmond tér, mein kleiner Bruder auf das Árpád Gymnasium –, weil die Verschärfungen begannen. Dank der erwähnten hohen Kriegsauszeichnungen meines Vaters mussten wir zumindest anfangs keinen Judenstern tragen. Aber diese bevorzugte Behandlung hielt nur einen Monat, danach mussten wir das Fahrrad, das Radio, alles was wir hatten, abgeben.
1944, als Szálasi an die Macht kam, tauchten eine Menge Pfeilkreuzler bei uns in der Pacsirtamező utca 11 auf. Das Haus hatte vier Zimmer und eine Magdkammer, und war mit einem Stern gekennzeichnet. Außer uns wohnten dort noch andere jüdische Familien, ein Zimmer wurde in zwei geteilt. Die Pfeilkreuzler wollten Waffen. In der Diele hatte mein Vater Karikaturen von seinen Freunden aufgehängt. Die Pfeilkreuzler zerstörten sie. Da brachte meine Mutter ihnen das Offiziersschwert meines Vaters. Dies beschwichtigte sie etwas. Sie versprachen wiederzukommen, doch sie kamen nicht noch einmal zu uns.
Dann wurde die Ausgangssperre eingeführt. Hierhin durften wir nicht gehen, dahin durften wir nicht gehen, auf der Straße wurden wir angespuckt, wenn jemand den Stern sah. Ich hatte eine dunkelblaue Jacke, darauf sah der gelbe Stern eigentlich ganz schick aus.
In Óbuda wohnten viele Schwaben, sogenannte Braunhaxler. Nicht alle waren Antisemiten, das zu sagen, wäre übertrieben. Aber ich erinnere mich gut daran, dass sie, als am 19. März 1944 die Deutschen einmarschierten und den Árpád fejedelem út entlang zogen, von einer jubelnden Menge empfangen wurden. Nach ihnen kamen die ungarischen Soldaten, und die Schwaben drehten ihnen den Rücken zu. Ich rede von in Ungarn lebenden Schwaben.
Ende Oktober 44 wurde Óbuda von Juden gesäubert. Wir zogen in die Ó utca zu meinen Großeltern. Wir durften nur mitnehmen, was wir auf dem Rücken und in den Händen tragen konnten, also nicht mal das Nötigste. Vor unseren Augen schafften sie die Sachen fort. Der Hausmeister meinte, er würde sie aufbewahren. Er war auch ein Pfeilkreuzler.
Am 15. November wurden die Leute aus der Ó utca abgeholt und auf den sog. Todesmarsch geschickt. Auch meine Mutter und mein Bruder Gyuri wurden damals mitgenommen. Wir versuchten, einen Schutzbrief zu bekommen. Haben ihn sogar verschickt, aber der Brief hat wohl niemanden erreicht. Wir haben noch zwei Postkarten von meiner Mutter erhalten, eine aus Pilicsaba und eine aus Dorog. Sie schrieb, dass ihre Decken verloren gegangen seien, dass sie frören und Mutter sich um uns sorge. (Dokumente 204, 205). Danach hörten wir nichts mehr von ihnen.
Später kamen wir ins Ghetto, jeder zehnte wurde erschossen. Kleine Rotzlöffel bekamen Gewehre in die Hand gedrückt, genauso wie 1956, mit dem Unterschied, dass letztere heute als Helden verehrt werden. In keinem System sollten Waffen in Kinderhände gelangen. Genau genommen sollte keiner je eine Waffe in die Hand nehmen, aber Kinder erst recht nicht.
1944 gaben die Kinder mit den Waffen an, manchmal schossen sie auch. Man war vollkommen ausgeliefert, wir verloren damals unsere Menschlichkeit, unsere menschliche Würde.
Als Kind habe ich das noch nicht begriffen, ich verstand es nicht. Damals hatte ich nur Angst. Auf dem Klauzál tér schichteten sie Leichen auf. Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich einen Toten. Ich stolperte sogar über einen. Am Klauzál tér 16 gab es kein Wasser im Keller. Es gab Löcher zwischen den Häusern und man musste über die Toten klettern, um Wasser zu holen. Aber im Gegensatz zu dem, was diejenigen erlebt haben, die deportiert worden sind, war das gar nichts.
Im Januar, als uns die Russen befreiten, brachte uns unsere kalvinistische Ersatzmutter Jusztina Simon in die Szigony utca. Jusztina kam aus Komárom und war die wunderbare Köchin meiner Eltern gewesen.
Danach gingen wir zurück nach Óbuda. Unsere Wohnung war mit allen möglichen Unterlagen eines deutschen Unternehmens vollgemüllt. Uns blieben nur zwei Zimmer. Die anderen beiden bewohnten Mitmieter, die ebenfalls zurückgekommen waren. Die Wohnung des Hausmeisters konnte man schon gar nicht mehr betreten. Die war total zugestellt mit unseren Möbeln. Dann wurde der Hausmeister in die Andrássy út 60 eingesperrt, und wir erhielten einige unserer Möbel zurück.
Der Hausmeister selbst war kein Mitglied der Partei der Pfeilkreuzler, aber sein Vater und sein Bruder trugen schwarze Uniformen. Sein Bruder verschwand nach Argentinien, bevor er aufgehängt worden wäre.
Nach dem Tod meines Vaters riet irgendwer meiner Mutter, die wertvollen Teppiche ins Pfandhaus zu geben. Dort seien sie bombensicher… bombensicher? Natürlich haben wir sie nie wieder gesehen. Diejenigen, denen wir Schmuckstücke zur Aufbewahrung dagelassen hatten, erzählten, dass sie ausgeraubt worden seien: Von den teuren Gemälden nahmen wir die Bilderrahmen ab, verstauten sie in einem Koffer und gaben ihn unserer Nachbarin aus dem dritten Stock. Sie sagte, dass die Russen genau diesen Koffer gestohlen hatten.
Meine Mutter hatte die Angewohnheit, ihren Namen in die Innenseite ihrer Bücher zu schreiben. Später habe ich Bücher mit der Handschrift meiner Mutter geliehen bekommen. Aber was zählt das schon, wo doch unser Leben, das wichtiger war als alles andere, verloren gegangen war. Ich würde so gerne mit meiner Mutter, mit meinem Vater träumen, aber ich kann nicht.
Nach 1945 wollten wir zusammen mit den Zionisten auswandern. Aber Jusztina hätte nicht mit uns kommen können. Sie war unsere Mutter, als wir keine mehr hatten. Früher brachte sie uns Essen in das mit Stern gekennzeichnete Haus, setzte ihr Leben aufs Spiel. Und nachdem wir aus dem Ghetto befreit wurden, suchte sie uns sofort. Allen Schmuck, den sie von meinen Eltern zu Weihnachten bekommen hatte, tauschte sie gegen Essen ein, damit wir überleben konnten. Die Enkel nannten sie Omi.(Siehe das Foto von Vera und Jusztina Simon) (Foto 156)
Familie
Mein Vater hatte ein Holzlager am Filatorer Deich, an der Ecke zwischen Szentenderei út und Hévíz utca. Er hatte auch einen Wald und handelte mit dem Holz. Von seinen Geschwistern war er der wohlhabendste und die Familie kam immer bei uns zusammen. Mein Vater unterstützte die anderen Familienmitglieder. Seine Schmucksachen vertraute er teilweise seinem älteren Bruder, dem Doktor, an, aber diese tauchten nicht mehr auf.
Das Leid nach dem Krieg
„Ich kann nicht beten. Ich leide darunter. Vom auserwählten Volk der Juden sind sechs Millionen gestorben. Meine Mutter hat noch ernsthaft gebetet, gefastet.”
„Und dann kommt die nasse Jahreszeit…”
Bis zum heutigen Tag friere ich sehr schnell. Wenn der Herbst kommt, schäme ich mich, wenn ich friere. Ich weiß, es ist Blödsinn. Aber wenn ich daran denke, wie sehr meine Mutter und die anderen gefroren haben müssen. Nur in ein armseliges Stück Stoff gekleidet, denn 44 war ein strenger Winter, und ich quengele hier warm angezogen herum! Und dann kommt die nasse Jahreszeit und in meinem Kopf fängt es wieder von vorne an, nach so vielen Jahren.
Die Familie wohnte in der Pacsirtamező utca 11
Wohnort: Pacsirtamező utca 11 Pacsirtamező utca 11 – Haus mit Judenstern Ó utca – Wohnort der Großeltern Klauzál tér 16 – Ghetto
Vierte Klasse - auf der Grundlage Tibor Goldsteins und Gábor Gottlieb Gulyás’ Erinnerungen (1941-42) Anzahl der Schüler: 27 Obere Reihe von links: Ottó Gottlieb Gábor, xx, xx, Tibi Goldstein, Gyuri Goldner, Laci Tucker, xx, Tomi Sosberger oder Schlossberger, Frici Schuk, Andor Bleier oder Tomi Kohn
Mittlere Reihe von links: xx,xx, Ibi Lajusz, Andor Vándor, Ibolya Mérey, Jolán Gyenes, Béla Weisz, Vera Kramer, (Titi) Adél Reisz, Adél Quite
Untere Reihe von links: Kati Koos, Vera oder Györgyi Kemény, Rózsi Andauer, xx, Jenö Kramer, Karcsi Löbl, Ani Blum, xx, Kati Keiser, Marika Mautner, Anni Feldstein
134. György Kramer (1935-36)
135. Mór Kramer (1939-40)
136. Mórné Kramer (1943)
156. Vera Kramer, Gyuláné Lőb und Jusztina Simon (1960)
113. Vierte Klasse - auf der Grundlage Tibor Goldsteins und Gábor Gottlieb Gulyás’ Erinnerungen (1941-42) Anzahl der Schüler: 27
75. Der jüdische Friedhof in der Bécsi út. Denkmal für die aus Óbuda stammenden Opfer des Holocaust, 1947 (Aufnahme aus 2007)
180. Unterrichtsnotizen im Fach Religion, 1. Klasse. Handschrift von Jolán Gyenes (1934, Seite 1)
180. Unterrichtsnotizen im Fach Religion, 1. Klasse. Handschrift von Jolán Gyenes (1934, Seite 2)
180. Unterrichtsnotizen im Fach Religion, 1. Klasse. Handschrift von Jolán Gyenes (1934, Seite 3)
180. Unterrichtsnotizen im Fach Religion, 1. Klasse. Handschrift von Jolán Gyenes (1934, Seite 4)
180. Unterrichtsnotizen im Fach Religion, 2. Klasse. Maschinenschrift von Béla Weisz (1934-35, Seite 1)
180. Unterrichtsnotizen im Fach Religion, 2. Klasse. Maschinenschrift von Béla Weisz (1934-35, Seite 2)
180. Unterrichtsnotizen im Fach Religion, 2. Klasse. Unterschrift von Béla Weisz (1934-35, Seite 3)
180. Unterrichtsnotizen im Fach Religion, 3. Klasse. Handschrift von Vándor Andorné (1934-35, Seite 1)
180. Unterrichtsnotizen im Fach Religion, 3. Klasse. Handschrift von Vándor Andorné (1934-35, Seite 2)
180. Unterrichtsnotizen im Fach Religion, 4. Klasse. Handschrift von Vándor Andorné (1934-35, Seite 1)
180. Unterrichtsnotizen im Fach Religion, 4. Klasse. Handschrift von Vándor Andorné (1934-35, Seite 2)
181A. Unterrichtsnotizen . Aufzeichnungen jüdischer Religionsstunden in den hauptstädtischen Schulen, Maschinenschrift (1933, 1934, 1935)
181B. Unterrichtsnotizen . Aufzeichnungen jüdischer Religionsstunden in den hauptstädtischen Schulen, Handschrift (1933, 1934, 1935)
204. Kramer Mórnés Postkarte aus Piliscsaba (17. November 1944)
205. Kramer Mórnés Postkarte aus Dorog (1944, Seite 1)
205. Kramer Mórnés Postkarte aus Dorog (1944 Seite 2)